afp agence france press – 02. August 2002

 

D/USA/Terrorismus/Luftfahrt/KORR

Der Schock des 11. September sitzt tief

Fluglinien nehmen am Jahrestag Flüge aus dem Programm

Psychologen raten Passagieren zum bewussten Umgang mit Ängsten

 

Von Stephanie Lob

 

= Berlin, 2. August (AFP) - Der Schock des 11. September sitzt tief: Die Bilder des einstürzenden World Trade Center haben sich so fest ins Gedächtnis eingegraben, dass Fluglinien zum Jahrestag der Terroranschläge reihenweise USA-Flüge streichen. Britisch Airways will ein Drittel aller Transatlantik-Flüge aus dem Programm nehmen. Auch Air France und die skandinavische SAS fliegen mit weniger Maschinen. Auch bei der Lufthansa gibt es Buchungsrückgänge.

Den Bielefelder Psychotrauma-Experten Werner W. Wilk erstaunt das nicht: Die "Dimension des Grauens und Erschreckens" sei bei den Anschlägen so gewaltig gewesen, dass an dem symbolträchtigen Datum viele Ängste wiederauflebten. Viele Menschen hätten sich angesichts der brutalen Gewalt der Terroristen hilflos erlebt und hätten vor dem Fernseher regelrechte Schockzustände erlebt - von Herzrasen bis zu Kreislaufzusammenbrüchen. Damit unterscheide sich der 11. September auch grundsätzlich von schweren Verke hrsunfällen, bei denen technisches Versagen vorlag: "Auch Eschede hat uns sehr erschreckt, aber wir fahren alle noch ICE, heute sogar etwas schneller."

Durch den 11. September werde "eine Angst aufgefrischt, die man sowieso hat", betont der Luftfahrtpsychologe Gerhard Fahnenbruck. Rund 60 Prozent der Fluggäste litten - ganz unabhängig vom 11. September - unter einer mehr oder weniger starken Form der Flugangst. "Das reicht von solchen, die vor dem Start einen Schnaps trinken müssen bis zu solchen, die grundsätzlich versuchen, die Bahn oder das Auto zu nehmen."

Durch die Medien werde die Angst vor dem 11. September aber noch geschürt, betont Fahnenbruck: Die Vergessenskurve beginne normalerweise nach drei Monaten; die Bilder des zu Staub zerfallenden World Trade Centers und der in Panik fliehenden Menschen seien aber so oft wiederholt worden, dass niemand sich habe entziehen können. "Meine persönliche Meinung ist: Es ist das Klügste, am 11. September zu fliegen. Die Sicherheitsvorkehrungen werden sehr hoch sein. Außerdem kommt man pünktlich an, weil die Flugh äfen leer sind."

"Wenn sich jemand an so einem Datum ins Flugzeug setzt, hat sich davor bereits eine Menge abgespielt", hält Wilk dagegen. Das Risiko sei zwar rational nicht größer als an anderen Daten, der Einzelne müsse sich aber stärker mit seinen Ängsten auseinandersetzen. Er rät Fluggästen, sich vor Augen zu führen, dass das Fliegen immer noch relativ sicher ist. Es könne auch helfen, mit anderen Passagieren oder den Stewardessen zu sprechen. "Wenn die Flugbegleiter beruhigend auf die Ängste eingehen, senkt sich auch der Stresslevel." Und wen der 11. September nachhaltig schockiert habe, der solle die Gangway besser erst gar nicht betreten.

Auch bei Piloten könne der Jahrestag durchaus Ängste wecken, sagt Fahnenbruck, der selbst lange Passagiermaschinen flog. Bei Entführungen vor den Terroranschlägen sei klar gewesen: "Wenn man kooperativ ist und tut, was die Entführer wollen, kommt man häufig mit einem blauen Auge davon. Das hat sich ganz massiv geändert: Hier wurden die Piloten einfach umgebracht." Die Fluggesellschaften haben in seinen Augen aber im vergangenen Jahr alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen unternommen, um Crew und Passagiere zu schützen.

Dass dies vor weiteren Anschlägen schützt, bezweifelt Wilk allerdings: "Jeder, der die Weltpolitik verfolgt, wird sich bei dem Gedanken, dass möglicherweise ein Krieg gegen Irak ins Haus steht, überlegen, ob das Fliegen noch eine sichere Sache ist." Den 11. September, glaubt er, wird in den kommenden vier bis fünf Jahren niemand so schnell vergessen können.

lob/mt